Die meisten Menschen glauben, Kultur passiert im Theater, in der Oper, im Museum, im Atelier, an der Hochschule kurz gesagt: ohne sie. Dem Begriff Kultur haftet immer noch der Geschmack des Elitären und Exklusiven an. Der Kulturschaffende sitzt im Elfenbeinturm des Geistes und schwingt sich in Sphären auf, wohin ihm der Normalsterbliche nicht folgen kann. Im Gegenzug nimmt sich dieser daraufhin wieder seiner Fernbedienung an.
Verstärkt wird dieser Gegensatz durch eine Kulturindustrie, welche gezielt und aus monetären Beweggründen Exklusivität für sich beansprucht. Und was macht die öffentliche Hand? Anstelle hier bewusst eine inklusive Gegenposition zu beziehen, stößt diese in das gleiche, leider oft allzu abgeschmackte Horn. Dabei wird die konstruierte Exklusivität als Bühne für die Profilierung der Mächtigen missbraucht. Und deshalb reiht sich alle Jahre wieder Event an Event und Highlight an Highlight, nicht weil es gefällt, sondern weil es sich ziemt.
Eine sozialdemokratische Kulturpolitik, welche diese Übel überwinden wollen würde, setzt ein sozialdemokratisches Verständnis von Kultur voraus, welches über den Slogan „Kultur für alle!“ hinausgeht.
Was ist Kultur?
Kultur im sozialdemokratischen Sinn muss inklusiv, nicht exklusiv sein. Demzufolge ist jeder Mensch gleichermaßen Kulturschaffender. Kultur ist dann die Summe allen materiellen und immateriellen Handelns des Menschen. Sie speist sich daher per Definition aus Vergangenheit und Gegenwart und ist auf die Zukunft ausgerichtet. Die Kenntnis, das Verständnis und die Auseinandersetzung mit der Kultur gibt dem Menschen Orientierung, Selbstvertrauen, Identität und bereitet ihm in der Folge Freude.
Dass jeder Mensch Kulturschaffender ist, sollte zum Grundgedanken einer sozialdemokratischen Kulturpolitik werden. Es gibt daher in diesem Sinne keine Hochkultur. Die bildenden und darstellenden Künste sowie die Wissenschaft sind nur ein Teil der Kultur. Dies bedeutet nicht, dass es keine herausragenden kulturellen Leistungen gibt, aber in diesem sozialdemokratischen Verständnis von Kultur wird dem Bild einer Dreijährigen dieselbe Daseinsberechtigung zugesprochen, wie einem Bild von Leonardo da Vinci.
Begreift man Kultur in diesem erweiterten, inklusiven Sinne, dann ist auch die unsägliche Diskussion über eine „Leitkultur“ absolut hinfällig. In einer Kultur bilden sich durch den Diskurs Normen und Wertigkeiten heraus. Diese werden als Konsens stillschweigend akzeptiert und zur Grundlage des individuellen Handelns erhoben. Wer glaubt, diesen Wertekanon par ordre di mufti einer Gesellschaft überstülpen zu können, hat leider nicht verstanden, wie Kultur funktioniert. Dies ist übrigens kein Plädoyer für „MultiKulti“, was letzten Endes auch nur eine Leitkultur, jedoch mit anderen Vorzeichen ist.
Inklusiv statt exklusiv: Ziele einer sozialdemokratischen Kulturpolitik
Die wichtigsten Ziele einer jeden Kulturpolitik müssen deshalb sein: Erstens die Schaffung eines gesellschaftlichen, organisatorischen und finanziellen Rahmens, in dem sich jeder Mensch kulturell entfalten kann. Auf der Basis der Kommunen würde dies bedeuten, dass eine sozialdemokratische Kulturpolitik alle BürgerInnen auffordert, sich einzubringen. Ein Beispiel: Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie setzt sich aufgrund seines Stiftungszweckes mit der Kunst der ehemals deutschen Ostgebiete auseinander. Wäre es nicht sinnvoll, einmal Regensburger BürgerInnen, die ihre Wurzeln in Osteuropa haben, einzuladen, sich künstlerisch mit ihrer eigenen Biographie auseinanderzusetzen und die Ergebnisse anschließend im Rahmen einer Ausstellung zu präsentieren? Oder warum wird das Regensburger Bürgerfest in seinem ursprünglichen Sinn nicht als Fest der Bürger neu interpretiert? Prestigeträchtige Events hingegen, bei denen der Bürger zum bloßen Konsumenten beziehungsweise zur Kulisse für die Selbstdarstellung Einzelner degradiert wird, könnten im Gegenzug getrost den privaten Veranstaltungsagenturen überlassen werden.
Zweitens muss Kulturpolitik darauf hinwirken, dass durch eine entsprechende Kulturpädagogik jedem die Möglichkeit gegeben wird, sich Kenntnisse über seine eigene und die Kultur seiner Mitmenschen anzueignen. Kultur findet nicht nur im Museum, im Theater oder im Konzertsaal statt, sondern überall und jederzeit. Deshalb sollte eine sozialdemokratische Kulturpolitik darauf abzielen, nicht nur öffentliche Veranstaltungen mit einem entsprechenden pädagogischen Begleitprogramm zu flankieren, sondern auch den Menschen die Möglichkeit offerieren, sich mit der Kultur an sich zu befassen. Es gibt leider kein Schulfach Kultur und dennoch wäre es wünschenswert, dass jeder Grundkenntnisse erlangt, wie kulturelle Prozesse und Diskurse ablaufen, also zu verstehen, wie Kultur funktioniert.
Drittens muss den Menschen die wertneutrale – beziehungsweise vorurteilsfreie – Auseinandersetzung mit ihrer eigenen und der Kultur ihrer Mitmenschen ermöglicht werden, wobei die Teilnahme an diesem Diskurs auf unterschiedlichen Ebenen allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft offen stehen muss. Diskursiv besonders wirkmächtig und deshalb von besonderem Wert sind die kulturellen Äußerungen der bildenden und der darstellenden Kunst sowie der Wissenschaft.
Das Ergebnis wäre, dass die Kultur endlich den ihr zustehenden Stellenwert im Mittelpunkt der Gesellschaft einnehmen könnte. Würde sich jeder Mensch als wichtiger, wertvoller Teil unserer Kultur begreifen, wäre schon viel gewonnen.
(Gedruckte Version: Hammerl, Tobias: Du bist Kultur! IN: anstoss – Magazin der Jusos Regensburg, Ausgabe 2, Januar 2012, S. 7 – 8.)